Edele Traumgestalten

In der Kunst der Zeit um 1900 blieben auf vielen Gebieten die unterschiedlichsten älteren Traditionen spürbar, zudem waren stilistische Einflüsse häufig. Vielen Künstlern der Neuen Kunst merkte man lange ihre prägende Ausbildung an. An den Kunstakademien die als Ausbildungsstätten von den jungen Künstlern aufgesucht wurden, herrschte meist eine konservative Gesinnung. Die in Ehren ergrauten Professoren brachten ihren Schülern bei, wie man wirkungsvolle Skulpturen schafft, die sieh für Denkmäler; Brunnen, Gräber, Parkanlagen eigneten. Daneben gab es einen großen Bedarf für kleinformatige Skulpturen, die in Kunstausstellungen zur Schau gestellt wurden und zum Schmuck großbürgerlicher Salons bestimmt waren. Dem Wohnstil des späten 19. Jahrhunderts entsprach überladener Prunk, von der Bronzefigur auf eigenem Postament bis zu den Nippsachen auf Vertiko und Kaminsims. Stilistisch wiesen jene Skulpturen, je nach Bestimmung und Auftrag, ein sehr unterschiedliches Aussehen auf. Es gab naturalistische Werke, solche der klassizistischen Tradition sowie eine überwiegende Fülle von süßlicher Zuckerbäckerkunst für großbürgerliche Behausungen, Parkanlagen und Friedhöfe.

Der Neue Stil mit seiner ausgesprochenen Neigung zum reizvollen Ornament, zur Dekoration, zu erlesenem und meisterlich verarbeitetem seltenen Material eignete sich besonders für die Angewandte Kunst.

Die von England ausgehende Erneuerung des Kunstgewerbes fand in zahlreichen kunsthandwerklichen Werkstätten auf dem Kontinent ihre Entsprechung. Mit meist kleinformatigen plastischen Arbeiten befassten sich Bildhauer, Goldschmiede, Keramiker, Glaskünstler, Kunstgewerbler aller Art. Der Jugendstil der die subtilen Übergänge, die äußerste Feinheit, lineare Erstreckung und sensible Spannung schätzt, wandte dem kleinformatigen plastischen Detail seine besondere Aufmerksamkeit zu, und so finden wir gerade aus jener Epoche unzählige Beispiele höchster kunsthandwerklicher Qualität. Zu dieser Kleinplastik des Jugendstils zählen u. a.: Kunstschmiedearbeiten, Medaillen und Schmuck, Kirchengerät, Kleinbronzen, Bestecke, Uhren, Rahmen, Keramik.

Seinem auf das Intime, Stimmungsvolle, Schöne, Träumerische gerichteten Wesen nach, brachte der Jugendstil relativ selten großformatige Skulpturen hervor. Die Neue Kunst lud den Betrachter vielmehr zur ästhetischen Andacht. ein. Das formschöne, ornamental geschmückte Kunstwerk soll ihn „bezaubern“. Der Ausdruck der Jugendstilskulptur ist verhalten (- im Gegensatz etwa zur Lautstärke und Eindringlichkeit des Expressionismus!). Die Unterschiede der einzelnen Temperamente waren groß. Der Südfranzose Aristide Maillol (1861-1944) hatte z.B. als Ideal antikisch-körperhafte Frauen im Stil alt-griechischer Plastik, die in seinen Werken aus der Zeit um 1910 von jugendstilig langfließenden Ornamentformen dezent umspielt werden.

Sein bedeutender Generationsgenosse, der Belgier George Minne (1866-1941) orientierte sich in seiner frühen Skulptur von 1886 Mutter und totes Kind an der Plastizität altägyptischer Sitzfiguren sowie am Leidensausdruck früher Gotik. Die sanfte Modellierung, die seelische Feinheit und Verhaltenheit lassen ahnen, dass sich Minne zu einem der typischsten Bildhauer des Jugendstils entwickeln sollte. Am reinsten verkörpert sein Brunnen mit knieenden Knaben in Essen, der 1906 ausgeführt wurde, diesen sehnsuchtsvollen Stil: Der Ausdrucksdrang bleibt dem Ideal der Schönheit unterworfen. Zartheit, Hingabe, Erstreckung, eine neue allgemeine, mystische Religiosität, sind zugleich seelische Merkmale.

Unbeschwert, leicht und artistisch kommt am ehesten die kleinformatige Skulptur des französischen Art nouveau daher. Die Forderung L´art pour l’art, dass die Kunst ihren eigenen Gesetzen folgen müsse und sich nicht mit banaler Naturnachahmung begnügen dürfe, war in Frankreich bereits selbstverständlich. Hier gab es auch ein verwöhntes Publikum, das geistreiche Einfälle und effektvolle Verwandlungskünste schätzte, (- im Gegensatz zum deutschen Anspruch auf Gewichtigkeit und feierliche Würde).

Die Verklärung der weiblichen Schönheit gehört zu den besten Traditionen der französischen Kunst. Der Neue Stil mit seiner Vorliebe für pflanzliche Formen, schwingende Linien. Blüten, Stoffe, Schleier, Lichteffekte, Oberflächenreize, Jugend, Eleganz, Mode, Geschmack, Dekor und Ornament bot größte Möglichkeiten für unzählig viele Varianten dieses unerschöpflichen ewigen Leitthemas.

Der belgische Bildhauer Charles van der Stappen, (1843 -1910) vollzog in seinem Werk, als Angehöriger einer älteren Generation, die Annäherung an die Neue Kunst nur zögernd und belastet durch herkömmliche Überlieferungen. Er hatte bei Jean-Baptiste Carpeaux in Paris gelernt, der einen malerisch bewegten Stil mit romantischen Anklängen bevorzugte, ferner stand er unter dem Einfluss seines Landsmanns Connstantin, Meunier (1831-1905), der sieh um expressive Monumentalität bemühte. Dem weit verbreiteten Trend zur Verwendung kostbarer Materialien und zur Hervorholung interessanter Effekte, zur ornamentalen Bereicherung und Stilisierung entspricht in van der Stappens kleinforniatiger Skulptur Le Sphinx mystérieux aus dem Jahr 1897 die Kombination von Elfenbein und ziselierter Bronze.

Die Literatur des Symbolismus hatte um die Jahrhundertwende einen weitreichenden Einfluss auf die Bildende Kunst. Diese geistige Bewegung wollte das Geheimnisvolle des Lebens und der Seele anklingen lassen. Sie bevorzugte eine schwebende Stimmung und Atmosphäre, die verwandt in zahlreichen Nuancen auch beim Jugendstil auftritt, Die Geheimnisvolle Sphinx des belgischen Bildhauers bringt diese symbolische Komponente deutlich zum Ausdruck. Die Mystifikation, das Rätselhafte, Bedeutungsvolle rechnet mit lyrisch empfindenden Betrachtern. Bei den englischen Präraffaeliten gab es bereits verwandte Bestrebungen, der Kunst sowohl neue Schönheit als auch ornamentalen Reiz und tiefere Bedeutung zu geben. Romantische Züge kamen in dieser Stilisierung ebenfalls wieder zum Vorschein.

Baudelaire und Verlaine, Rimbaud und Mallarme hatten einen ebenso großen Einfluss in jener Zeit wie der Italiener D´Annunzio, der Engländer Wilde oder die Dichter Rilke und Hofmannsthal. Der Jugendstil gedieh in einer Atmosphäre, die Schönheit und Stilisierung, Geheimnis und Offenbarung ersehnte. Dichtung und Kunst hatten in jener Epoche für die geistige und gesellschaftliche Elite mitunter den Charakter der Ersatzreligion. Es herrschte ein lebhaftes Interesse für okkulte Phänomene, für alles Geistige, für seelische Schwingungen und für die Psychologie, – häufig auch für herbstliche Stimmungen und für raffinierte Dekadenz. Der Jugendstil huldigte nicht nur der blühenden Jugend, sondern er hatte ebenso Sinn für die müde Vergänglichkeit des Herbstes.

Der Künstler, der auf dem Gebiet der Kleinplastik die Prinzipien des Art nouveau am reinsten verkörperte, ist der französische Goldschmied René Lalique (1860-1945). Er schuf zauberhafte Schmuckstücke, u. a. für die Schauspielerin Sarah Bernhardt in denen Kostbarkeit des Materials, meisterliche Verarbeitung und das typische, organisch bewegte Ornament des Jugendstils eine einzigartige Symbiose eingehen. Im Jahr 1885 gründete er eine eigene Werkstatt für Kunstglas, in der seine Entwürfe – Lalique-Vasen und -Gläser – in diesem Lieblingsmaterial des Neuen Stils meisterhaft ausgeführt wurden.

Die rasche Verbreitung des Jugendstils wurde durch zahlreiche kunsthandwerkliche Werkstätten gefördert. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts (Weltausstellung in London 1851) hatten die europäischen Regierungen das heimische Kunsthandwerk begünstigt, um die eigene Industrie konkurrenzfähiger zu machen und den allgemeinen Anspruch und die handwerkliche Qualität zu steigern. Die fabrikmäßige Serienanfertigung hatte zuvor einen Niedergang des Handwerks verursacht, das nun neu belebt werden sollte. Diese Bestrebungen wurden von zahlreichen Kunstgewerbeschulen gefördert, ebenso zeichnete man vorbildliche Erzeugnisse des Kunsthandwerks anlässlich großer Ausstellungen mit Preisen und Medaillen aus. Die preisgekrönten, qualitätsvollen Objekte wurden z.T. auch staatlich angekauft und als Vorbilder in den neu gegründeten Kunstgewerbemuseen ausgestellt. Ebenso setzten sich Kritiker, Kenner, Sammler, in zahlreichen Veröffentlichungen und Kunstzeitschriften für den Neuen Stil ein, so dass es in fortschrittlichen Kreisen gesellschaftsfähig wurde, die Neue Kunst zu schätzen, zu kaufen, zu sammeln, und sich mit einem modernen Rahmen zu umgeben.

Ein Wiener Beispiel für die kunsthandwerkliche Anwendung des neuen Secessionsstils sind die keramischen Arbeiten von Michael Powolny (1871-1954). Er war Bildhauer und Keramiker und hatte an der Kunstgewerbeschule in Wien gelernt, an der der neue Stil gelehrt wurde. 1906 gründete er die eigene Werkstätte Wiener Keramik. 1909 wurde er als Lehrer an die Wiener Kunstgewerbeschule berufen. Er schuf vorwiegend gefällige keramische Kleinplastiken im neuen Stil, die außerordentlich beliebt waren. Diese Majolikaarbeiten sind meist weiß glasiert. Es handelt sich häufig um Putten. Die häufigen Kunstausstellungen machten die neue Wiener Richtung bekannt, die geometrisch-kleinteilige Vereinfachung bevorzugt.

Die 1903 von Josef Hoffmann, Koloman Moser und Fritz Wärndorfer gegründete Wiener Werkstätte gewann durch ihre im neuen Stil qualitätsvoll und materialgerecht gefertigten Kunstgegenstände einen außerordentlichen Einfluss. Sie bahnte den Weg zu einem zweckmäßigen, formschönen, geometrisch stilisierten Kunstgewerbe.

Neben dieser elitären, von einer kleinen künstlerischen Avantgarde stilisierten und für eine Minderheit bestimmten modernen geometrischen Richtung gab es, in Wien wie an den anderen Zentren Europas nach 1900 eine weit verbreitete, volkstümliche Richtung des floralen Jugendstils. Ein Beispiel dafür ist die träumerische Weibliche Figur am Stadtpark im Zentrum Wiens, der nach Entwürfen von Otto Wagner gestattet wurde. Typisch für diesen Stil ist seine dekorative Verhaltenheit. Er bevorzugt „nachtwandlerische“, edle, junge Frauen mit lang fließenden Gewändern, die selbst wie eine Blüte und von Natur umgeben sind. Dieses kunstvoll stilisierte erhabene Ideal, das in der Kunst des Jugendstils in Varianten tausendfältig vorkommt, wurde von schwächeren Nachahmern massenweise – zum Überdruss nüchterner Erben – vervielfältigt und bis zum fragwürdigen Kitsch entstellt.

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