Brief an Lady Wilde (23. Juni 1875)

23. Juni 1875, Poststempel 24. Juni 1875
Albergo della Francia, Mailand
Seit fünf Tagen so beschäftigt mit Reisen und Besichtigungen, dass ich keine Zeit zum Schreiben gefunden habe.

Tagebuch. Verließ Florenz mit großem Bedauern Samstag Abend; Fahrt durch den Apennin, schöne Berglandschaft; Bahnstrecke verläuft auf halber Höhe des Gebirgszugs, über uns Nadelwälder und Felsschroffen, unter uns das Tal, Dörfer und angeschwollene Flüsse. Abendessen in Bologna; näherten uns Venedig gegen 5 Uhr 30 morgens. Sogleich beim Austritt aus den Bergen ein weites, flaches Tafelland (in Italien gibt es keine Hügel – nur Berge oder Flachland), bepflanzt wie ein üppiger Garten. Vier Meilen vor Venedig völliger Szenenwechsel; schwarzes Moor, genau wie das Moor von Allen, nur flacher; überquerten auf einer Brücke eine breite laguna und kamen in Venedig um 7 Uhr 30 an. Sogleich von Gondolieri am Wickel gepackt und mitsamt Gepäck in eine schwarze leichenwagenförmige Barke eingeschifft, die uns entführte wie König Artus nach der tödlichen Schlacht. Durch lange, enge Kanäle erreichten wir schließlich unser Hotel auf der großen Piazza San Marco – außer der Rialtobrücke die einzige Stelle in Venedig, wo man zu Fuß gehen kann. Anbei Plan [Faustskizze]. Die Kirche San Marco ist unerhört prunkvoll; eine herrliche byzantinische Kirche, innen und außen mit Gold und Mosaiken bedeckt. Der Fußboden aus eingelegtem Marmor in unbeschreiblichen Farben und Mustern schlägt, da sich die Pfeiler senken, langgezogene Wellen. Herrliche Bronzetüren, alles glanzvoll. Daneben der Dogenpalast, der über alles Lob erhaben ist. Im Innern riesige Ratssäle; an den Wänden Fresken von Tizian, auf denen die großen Schlachten der Venezianer dargestellt sind. Die Decken von vergoldeten Balken durchzogen und mit vergoldetem Schnitzwerk reich geschmückt; passende Umgebung für die edlen, ernstblickenden Senatoren, deren Porträts, von Tizian oder Tintoretto gemalt, an den Wänden hängen.

Ratssaal der «Großen Drei»: schwarzer Marmor und Gold. Zwei düstere Gänge führen davon ab über den Ponte dei Sospiri. Größe, Farben und Pracht der Räume übertreffen jede Beschreibung, und der Blick aus den Fenstern übers Meer ist wunderbar. Unter all diesem Prunk befinden sich die greulichen Verliese und Folterkammern – höchst schauderhaft.

Hier verbrachten wir den Vormittag; nahmen dann eine Gondel und besuchten die Inseln vor Venedig; auf einer das armenische Kloster, wo Byron sich aufhielt. Fuhren weiter zum sogenannten Lido, einem beliebten Ziel für Sonntagsausflüge, aßen Austern und Scampi. Heimfahrt überflutet von großartigem Sonnenuntergang. Venedig, die Stadt, die aus dem Meer emportaucht; langgestreckte Silhouette dichtgedrängter Kirchen und Paläste; überall weiße oder goldene Kuppeln und schlanke Campanile; in der ganzen Stadt kein freier Fleck außer der Piazza San Marco. Großartiger scharlachroter Sonnenuntergang mit einer langen Schleppe purpurner Gewitterwolken hinter der Stadt. Nach dem Abendessen ins Theater, gute Truppe gesehen. Zum Glück wundervoller Mond. Nach dein Theater stiegen wir beim Löwen von Sankt Markus aus der Gondel. Die Szenerie war so romantisch, dass sie wie das Bühnenbild zu einer Oper wirkte. Wir saßen am Fuß der Säule; auf einer Seite den Dogenpalast, auf der anderen den königlichen Palast, hinter uns den Campanile. Die Kanalstufen umdrängt von schwarzen Gondeln, und ein breiter Lichtstrom fiel übers Wasser direkt auf uns. jeden Augenblick glitt eine schwarze Gondel lautlos durch diese breite Lichtbahn und verlor sich im Dunkel.

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